11. Bindungsangst und die Angst vor dem Verlassenwerden
Auf den ersten Blick erscheinen Bindungsangst und die Angst vor dem Verlassenwerden als Gegensätze. Wer Angst vor dem Verlassenwerden hat, müsste doch eigentlich nach Nähe suchen – und nicht vor ihr weglaufen, oder? Doch genau hier liegt das Paradoxon: Menschen mit Bindungsangst haben oft eine tief verwurzelte Angst davor, verlassen zu werden, die sie jedoch nicht direkt wahrnehmen oder sich eingestehen. Ihr Schutzmechanismus ist es, Nähe zu vermeiden, um nicht verletzt zu werden.
Doch wie genau hängen diese beiden Ängste zusammen? Warum ziehen sich Betroffene zurück, obwohl sie eigentlich geliebt werden wollen? Und wie kann dieser Kreislauf durchbrochen werden?
1. Die Grundlagen der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie von John Bowlby zeigt, dass unsere frühen Beziehungserfahrungen mit unseren primären Bezugspersonen (z. B. Eltern) beeinflussen, wie wir später in engen Beziehungen agieren. Dabei entwickeln sich verschiedene Bindungsstile:
Sicherer Bindungsstil: Eine Person kann Nähe zulassen und Verbindungen eingehen, ohne Angst vor dem Verlassenwerden oder Kontrollverlust zu haben.
Ängstlich-ambivalenter Bindungsstil: Starke Verlustangst führt zu klammerndem Verhalten und ständiger Sorge, nicht genug geliebt zu werden.
Vermeidender Bindungsstil: Menschen distanzieren sich emotional und betonen Unabhängigkeit, um sich vor Enttäuschung und Schmerz zu schützen.
Der vermeidende Bindungsstil ist das Zentrum unseres Themas, denn er zeigt, warum die Angst vor dem Verlassenwerden paradoxerweise zur Vermeidung von Nähe führt.
2. Die tief sitzende Angst vor dem Verlassenwerden
Menschen mit Bindungsangst haben oft unbewusst früh gelernt, dass emotionale Nähe schmerzhaft oder unsicher sein kann. Sie haben möglicherweise Erfahrungen gemacht wie:
Unzuverlässige Eltern oder Bezugspersonen, die mal liebevoll, mal distanziert waren.
Emotionale Zurückweisung, wenn sie Nähe gesucht haben.
Erfahrungen von Verlassenwerden oder Vernachlässigung.
Das Ergebnis? Ein Schutzmechanismus entsteht: „Wenn ich niemanden zu nah an mich heranlasse, kann mich auch niemand verletzen oder verlassen.“
3. Die Verdrängung der Verlustangst
Menschen mit Bindungsangst spüren oft nicht direkt, dass sie Angst vor dem Verlassenwerden haben. Stattdessen zeigen sich bei ihnen folgende Verhaltensweisen:
Flucht aus Beziehungen, sobald sie emotional intensiver werden.
Angst vor Verpflichtungen, langfristigen Plänen oder Zusammenziehen.
Idealisierung der Unabhängigkeit („Ich brauche niemanden“).
Das Gefühl, sich in engen Beziehungen erdrückt zu fühlen.
Ihr Hauptproblem: Sie wollen Liebe, aber die Angst vor der potenziellen Enttäuschung ist so groß, dass sie lieber auf Bindung verzichten.
4. Der Kreislauf der Selbsterfüllung
Das Paradoxe ist: Gerade durch die Vermeidung von Nähe erhöhen Menschen mit Bindungsangst die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich verlassen werden. Ihre Partner fühlen sich zurückgewiesen, ungeliebt und unsicher, wodurch sie sich irgendwann distanzieren oder die Beziehung beenden.
Das bestätigt die tiefe Angst der vermeidenden Person:
Unbewusste Angst vor Verlassenwerden
Schutzmechanismus: Distanz aufbauen, um nicht verletzt zu werden
Partner fühlt sich unerwünscht und zieht sich zurück
Vermeidende Person fühlt sich in ihrer Angst bestätigt („Man kann sich auf niemanden verlassen“)
Wiederholung des Musters in der nächsten Beziehung
So entsteht ein toxischer Kreislauf, der ohne bewusste Reflexion kaum durchbrochen werden kann.
5. Ängstlich-ambivalenter vs. vermeidender Bindungsstil
Besonders häufig ziehen sich ängstlich-ambivalente und vermeidende Bindungstypen an, da sie gegensätzliche Bedürfnisse haben:
Verhalten Ängstlich-ambivalent Vermeidend
Nähe Starker Wunsch nach Nähe Angst vor zu viel Nähe
Angst Angst, dass der Partner sich distanziert Angst, dass der Partner zu nahe kommt Schutzstrategie Klammern emotionale Abhängigkeit Rückzug, Unabhängigkeit betonen
Ergebnis Partner fühlt sich erdrückt Partner fühlt sich zurückgewiesen
Unbewusste Angst Verlassen zu werden Verlassen zu werden
6. Wie kann der Kreislauf durchbrochen werden?
Wer sich in diesen Mustern wiedererkennt, kann durch Bewusstwerdung und gezielte Änderungen daran arbeiten, sicherere Bindungen aufzubauen:
Selbstreflexion: Die eigenen Ängste und Schutzmechanismen erkennen.
Therapeutische Unterstützung: Eine Therapie oder Coaching kann helfen, alte Verletzungen aufzuarbeiten.
Langsame Annäherung an Bindung: Sich bewusst auf Partnerschaft einlassen, ohne sofort das Gefühl zu haben, fliehen zu müssen.
Kommunikation mit dem Partner: Offen darüber sprechen, welche Ängste und Bedürfnisse bestehen.
Achtsamkeit und innere Sicherheit aufbauen: Meditations- oder Achtsamkeitstechniken helfen, emotionale Unsicherheiten zu regulieren.
Fazit
Bindungsangst und die Angst vor dem Verlassenwerden sind kein Widerspruch, sondern eng miteinander verknüpft. Wer Bindung vermeidet, tut dies oft aus Angst vor Schmerz und Zurückweisung. Diese Muster zu erkennen, ist der erste Schritt zur Heilung und zu gesunden, erfüllenden Beziehungen.