6. Dissoziation bei Bindungsangst
Was ist Dissoziation?
Dissoziation ist eine psychische Schutzreaktion, bei der das Bewusstsein, die Wahrnehmung oder das emotionale Erleben fragmentiert wird. Menschen mit Bindungsangst neigen dazu,
in engen Beziehungen oder in stressigen zwischenmenschlichen Situationen dissoziativ zu reagieren. Dies äußert sich durch emotionale Abwesenheit, das Gefühl der Unwirklichkeit
oder sogar das plötzliche Vergessen bestimmter Erlebnisse.
Dissoziation kann als eine Art Notfallmodus des Gehirns verstanden werden, der aktiviert wird, wenn Emotionen oder Erinnerungen als zu überwältigend empfunden werden.
Während dieser Zustand kurzfristig Schutz bieten kann, hat er langfristig oft negative Auswirkungen auf das Bindungsverhalten und zwischenmenschliche Beziehungen.
Wie zeigt sich Dissoziation bei Bindungsangst?
Menschen mit einem vermeidenden oder ängstlich-vermeidenden Bindungsstil erleben Dissoziation oft in emotional intensiven Momenten. Typische Anzeichen sind:
Emotionale Taubheit: Plötzliches Fehlen von Gefühlen in emotional nahen oder stressigen Situationen. Betroffene berichten häufig, dass sie sich „wie abgeschaltet“ oder „leer“ fühlen.
Gedächtnislücken: Schwierigkeiten, sich an bestimmte Gespräche oder intime Momente zu erinnern. Dies kann insbesondere nach emotional herausfordernden Erlebnissen auftreten.
Gefühl der Unwirklichkeit: Die Umgebung oder die Beziehung fühlt sich fremd oder distanziert an. Manche Menschen beschreiben es, als wären sie „Zuschauer“ ihres eigenen Lebens.
Plötzlicher Rückzug oder Freeze-Reaktion: Statt auf Konflikte oder Nähe zu reagieren, erstarren Betroffene oder ziehen sich emotional zurück. Sie können sich in Gedanken verlieren oder das Bedürfnis verspüren, sich aus der Situation zu entfernen.
In vielen Fällen geschieht dieser Rückzug unbewusst. Eine Person mit Bindungsangst kann sich nach einem tiefgehenden Gespräch plötzlich distanziert oder unbeteiligt fühlen,
ohne genau zu wissen, warum.
Warum tritt Dissoziation auf?
Dissoziation entwickelt sich meist als Schutzmechanismus in der Kindheit, wenn emotionale Nähe mit Überforderung, Zurückweisung oder Kontrollverlust verbunden war.
Kinder, die mit inkonsistenten oder ablehnenden Bezugspersonen aufwuchsen, entwickelten oft diese Strategie, um sich vor schmerzhaften Erfahrungen zu schützen.
Statt sich der unangenehmen Realität zu stellen, trennt sich das Bewusstsein von den Gefühlen, um Schmerz zu vermeiden. Das Gehirn lernt, dass emotionale Distanz Sicherheit bietet –
ein Muster, das im Erwachsenenalter weiter bestehen bleibt.
Menschen mit Bindungsangst haben häufig folgende prägende Erfahrungen gemacht:
Frühe emotionale Vernachlässigung: Wenn Eltern nicht angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes eingingen, entwickelte das Kind eine Strategie, um sich selbst zu schützen –
durch emotionale Abspaltung.Unvorhersehbare oder überfordernde Nähe: Manche Betroffene haben in ihrer Kindheit Nähe als erdrückend oder unberechenbar erlebt und gelernt, sich unbewusst davon zu distanzieren.
Traumatische Erlebnisse: Erlebnisse wie Zurückweisung, Gewalt oder Missbrauch können Dissoziation als Bewältigungsstrategie fördern.
Folgen für Beziehungen
Wenn Dissoziation in einer Partnerschaft auftritt, kann dies zu erheblichen Herausforderungen führen:
Der Partner fühlt sich emotional abgelehnt, da der dissoziierende Part in wichtigen Momenten nicht erreichbar erscheint.
Missverständnisse entstehen, weil die betroffene Person oft selbst nicht versteht, warum sie sich plötzlich distanziert fühlt.
Vermeidungsverhalten verstärkt sich, weil emotionale Nähe als überwältigend empfunden wird.
Schwierigkeiten mit Intimität: Ein Partner kann das Gefühl haben, dass Nähe „zu viel“ ist oder Bedrohung auslöst, wodurch körperliche oder emotionale Intimität erschwert wird.
Wie kann man damit umgehen?
Um aus diesem Schutzmechanismus auszubrechen, können folgende Strategien helfen:
Bewusstes Wahrnehmen der Dissoziation
Ein erster wichtiger Schritt ist, zu erkennen, wann und warum man dissoziiert. Dies erfordert Achtsamkeit und Selbstreflexion.
Hilfreich ist es, ein Tagebuch zu führen, um typische Muster zu identifizieren.
Körperliche Erdungstechniken
Bewegung, bewusste Atmung oder das Fühlen von Gegenständen helfen, im Moment zu bleiben.
Techniken wie kaltes Wasser auf die Haut, das Berühren von festen Oberflächen oder tiefe Atemübungen können helfen, den Kontakt zur Realität wiederherzustellen.
Schrittweise Annäherung an Emotionen
Gefühle sollten langsam erkundet werden, ohne sich dabei zu überfordern.
Achtsamkeitstechniken und Körpertherapien (z. B. Yoga) können helfen, Emotionen besser wahrzunehmen.
Therapeutische Unterstützung
Eine bindungsorientierte Therapie oder Traumatherapie kann helfen, alte Muster zu durchbrechen.
EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder somatische Therapieansätze sind besonders wirksam bei der Verarbeitung von frühen Bindungstraumata.
Fazit
Dissoziation ist eine unbewusste Schutzreaktion, die in der Kindheit nützlich war, aber in erwachsenen Beziehungen zu Problemen führt. Sie verhindert, dass Menschen tiefe emotionale Nähe erleben und aufrechterhalten können.
Wer sich selbst besser versteht und aktiv an der Auflösung dieser Muster arbeitet, kann langfristig tiefere und sicherere Bindungen eingehen. Durch bewusstes Wahrnehmen, gezielte Strategien zur Erdung und gegebenenfalls therapeutische Unterstützung ist es möglich, neue Beziehungsmuster zu entwickeln und eine stabilere emotionale Verbindung zu sich selbst und anderen herzustellen.