21. Das verborgene Leid der Bindungsangst
Bindungsangst – ein Begriff, der in unserer Gesellschaft immer häufiger auftaucht. Doch was verbirgt sich wirklich hinter dieser Angst vor Nähe und Intimität? Auf der Oberfläche mag es wie Beziehungsunfähigkeit oder übertriebene Unabhängigkeit erscheinen. Doch unter der Oberfläche, tief im Inneren, liegen oft tiefe emotionale Wunden, sogenannte Kernwunden, die das Erleben von Beziehungen und das Selbstbild von Menschen mit Bindungsangst maßgeblich prägen.
In diesem Blogbeitrag tauchen wir tief in die psychologischen und wissenschaftlichen Hintergründe der Bindungsangst ein. Wir beleuchten die fünf zentralen Kernwunden, die häufig bei Menschen mit Bindungsangst anzutreffen sind und zeigen auf, wie diese Wunden entstehen, sich manifestieren und vor allem: wie Heilung möglich ist.
Was sind Kernwunden überhaupt?
Ein Blick in die psychologische Tiefe
Kernwunden sind tiefe, emotionale Verletzungen, die meist in der frühen Kindheit entstehen. Stellen Sie sie sich wie unsichtbare Narben auf der Seele vor. Sie sind nicht physisch sichtbar, aber sie beeinflussen unser Fühlen, Denken und Handeln in Bezug auf uns selbst und andere, insbesondere in intimen Beziehungen. Die Bindungstheorie, ein zentraler Pfeiler der modernen Psychologie, liefert hier wichtige Erkenntnisse.
John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, postulierte, dass unsere frühen Erfahrungen mit primären Bezugspersonen (meist Eltern) grundlegend für die Entwicklung unseres Bindungsstils sind. Erlebten wir in der Kindheit Sicherheit, Verlässlichkeit und liebevolle Zuwendung, entwickeln wir einen sicheren Bindungsstil. Wurden unsere Bedürfnisse jedoch chronisch vernachlässigt, ignoriert oder gar missbraucht, können unsichere Bindungsstile entstehen, darunter auch die Bindungsangst (oft als ängstlich-ambivalenter oder ängstlich-vermeidender Bindungsstil beschrieben).
Kernwunden sind somit die emotionalen Narben unsicherer Bindungserfahrungen. Sie sind nicht einfach "negative Gedanken" oder "schlechte Angewohnheiten", sondern tiefgreifende emotionale Überzeugungen über uns selbst, Beziehungen und die Welt, die in unserem impliziten Gedächtnis verankert sind und automatisch aktiviert werden, besonders in Momenten der Nähe und Intimität. Diese Aktivierung löst dann die typischen Verhaltensmuster der Bindungsangst aus.
Die fünf zentralen Kernwunden der Bindungsangst –
Ein detaillierter Einblick
Obwohl jeder Mensch einzigartig ist und individuelle Erfahrungen macht, lassen sich bei Menschen mit Bindungsangst häufig fünf zentrale Kernwunden identifizieren. Diese Wunden sind eng miteinander verwoben und können sich gegenseitig verstärken.
1. Die Wunde des Verlassenseins:
"Ich werde verlassen werden."
Entstehung: Diese Wunde entsteht oft durch frühe Erfahrungen von tatsächlicher oder emotionaler Verlassenheit. Tatsächliche Verlassenheit kann der Verlust eines Elternteils durch Tod, Trennung oder Scheidung sein, aber auch längere Krankenhausaufenthalte des Kindes ohne elterliche Begleitung. Emotionale Verlassenheit hingegen beschreibt Situationen, in denen Eltern zwar physisch präsent, aber emotional unnahbar, depressiv, überfordert oder selbst unsicher gebunden waren. Auch inkonsistente Bezugspersonen, die mal liebevoll und zugewandt, mal abweisend und unberechenbar waren, können diese tiefe Verlassenheitsangst prägen. Das Kind lernt unbewusst: "Nähe ist unsicher, ich kann jederzeit verlassen werden."
Manifestation in der Bindungsangst: Menschen mit dieser Wunde leben in ständiger Angst, verlassen zu werden. In Beziehungen äußert sich dies in klammerndem Verhalten, ständiger Forderung nach Bestätigung und Aufmerksamkeit, extremer Eifersucht und Kontrollbedürfnis. Sie interpretieren neutrale oder sogar positive Signale des Partners oft negativ
("Er meldet sich nicht sofort, er will mich bestimmt verlassen!") und sehen überall Anzeichen für eine drohende Trennung. Dieses Verhalten kann paradoxerweise genau das auslösen,
was sie am meisten fürchten – das Verlassenwerden. Psychologisch lässt sich dies durch die Aktivierung früher innerer Arbeitsmodelle erklären, die besagen, dass Beziehungen unsicher und unbeständig sind (Bowlby, 1969).Beispiel: Anna wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die aufgrund ihrer eigenen psychischen Probleme oft emotional unberechenbar und wenig verfügbar war. In ihren Beziehungen als Erwachsene erlebt Anna massive Verlassenheitsängste. Wenn ihr Partner einen Abend mit Freunden verbringt, ohne sie einzuladen, ist Anna sofort in Panik, denkt, er wolle sie nicht mehr und beginnt ihn mit Nachrichten zu bombardieren, um sich zu versichern, dass er sie noch liebt.
2. Die Wunde der Ablehnung:
"Ich bin nicht liebenswert/genug."
Entstehung: Diese Wunde entsteht durch Erfahrungen von Ablehnung, Kritik, Geringschätzung, Demütigung oder Liebesentzug in der Kindheit. Wenn Eltern das Kind häufig kritisieren, beschämen, auslachen oder seine Bedürfnisse ignorieren, lernt das Kind unbewusst: "Ich bin nicht liebenswert, so wie ich bin. Ich bin nur liebenswert, wenn ich bestimmte Bedingungen erfülle (perfekt bin, brav bin, etc.)." Auch emotionale Kälte und mangelnde emotionale Resonanz von Bezugspersonen tragen zu dieser Wunde bei. Das Kind internalisiert die Botschaft: "Ich bin nicht wertvoll, meine Gefühle und Bedürfnisse sind unwichtig."
Manifestation in der Bindungsangst: Menschen mit dieser Wunde haben eine übermäßige Angst vor Ablehnung. Sie sind extrem empfindlich gegenüber Kritik, selbst kleinste Zurückweisungen oder Meinungsverschiedenheiten nehmen sie sehr persönlich und fühlen sich sofort zutiefst verletzt. In Beziehungen versuchen sie oft, es dem Partner "recht zu machen", ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken und sich anzupassen, um Ablehnung zu vermeiden. Gleichzeitig sind sie aber misstrauisch und erwarten Ablehnung, was zu selbstsabotierendem Verhalten führen kann (z.B. Distanz schaffen, bevor sie verlassen werden können). Psychologisch spielen hier Konzepte wie bedingungslose vs. bedingte Wertschätzung (Rogers, 1959) und die Entwicklung eines negativen Selbstbildes eine zentrale Rolle.
Beispiel: Markus wurde in seiner Kindheit von seinen Eltern oft für Fehler kritisiert und selten gelobt. In seinen Beziehungen als Erwachsener hat Markus massive Ablehnungsängste. Wenn seine Partnerin ihm konstruktives Feedback zu seiner Arbeit gibt, fühlt er sich sofort angegriffen und wertlos. Er versucht ihr ständig zu gefallen, nimmt ihre Meinung immer als die wichtigste an und traut sich kaum, eigene Wünsche zu äußern.
3. Die Wunde des geringen Selbstwertgefühls:
"Ich bin nicht gut genug für Liebe."
Entstehung: Ein geringes Selbstwertgefühl entwickelt sich oft, wenn Kinder nicht bedingungslos geliebt und wertgeschätzt werden. Wenn Eltern nur Leistung und Anpassung honorieren, dem Kind aber nicht das Gefühl geben, dass es um seiner selbst willen wertvoll ist, lernt das Kind, seinen Wert an äußere Bedingungen zu knüpfen. Auch ständige Vergleiche mit Geschwistern oder anderen Kindern, häufige Kritik oder das Gefühl, den Erwartungen nicht gerecht zu werden, können das Selbstwertgefühl nachhaltig negativ beeinflussen. Das Kind verinnerlicht: "Ich bin nur wertvoll, wenn ich etwas leiste oder jemand anderem gefalle."
Manifestation in der Bindungsangst: Menschen mit geringem Selbstwertgefühl haben oft das tiefe Gefühl, nicht liebenswert zu sein und keine Liebe zu verdienen. In Beziehungen glauben sie oft, dass sie ihren Partner nicht "verdienen" und haben Angst, dass er/sie "etwas Besseres" finden könnte. Dies führt zu großer Unsicherheit, Eifersucht und dem Bedürfnis nach ständiger Bestätigung. Sie neigen dazu, sich selbst abzuwerten, sich in Beziehungen klein zu machen und ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Psychologisch ist hier der Zusammenhang mit der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1977) und der Entwicklung eines inkohärenten Selbstkonzepts relevant.
Beispiel: Sophie wuchs in einer Familie auf, in der Leistung alles war. Sie wurde ständig mit ihren "erfolgreicheren" Geschwistern verglichen und bekam nur Anerkennung für gute Noten oder sportliche Erfolge. In ihren Beziehungen als Erwachsene zweifelt Sophie ständig an ihrem Wert. Sie glaubt, dass ihr Partner sie irgendwann verlassen wird, weil sie "nicht gut genug" ist und versucht ihn durch übermäßige Fürsorge und Anpassung zu halten.
4. Die Wunde des Misstrauens/Verrats:
"Ich kann niemandem vertrauen."
Entstehung: Diese Wunde entsteht durch Erfahrungen von Unberechenbarkeit, Inkonsistenz, Lügen, Geheimnissen oder Vertrauensbruch in der Kindheit. Wenn Eltern Versprechen nicht halten, unehrlich sind, sich unvorhersehbar verhalten oder das Kind gar verraten, lernt das Kind unbewusst: "Ich kann mich nicht auf andere verlassen, die Welt ist unsicher, Vertrauen wird enttäuscht." Auch traumatische Erfahrungen wie Missbrauch oder Vernachlässigung können tiefes Misstrauen prägen. Das Kind lernt: "Andere sind nicht sicher, ich muss mich selbst schützen."
Manifestation in der Bindungsangst: Menschen mit dieser Wunde haben Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen und sich auf Beziehungen einzulassen. Sie sind misstrauisch, vermuten oft negative Absichten hinter dem Verhalten anderer und haben Angst, verletzt oder ausgenutzt zu werden. In Beziehungen kann sich dies durch Kontrollbedürfnis, Eifersucht, ständige Überprüfung des Partners und Schwierigkeiten, sich emotional zu öffnen, äußern. Sie halten emotionale Distanz, um sich vor potenziellen Verletzungen zu schützen. Psychologisch spielen hier frühkindliche Traumatisierungen und die Entwicklung eines dysfunktionalen Beziehungsschemas eine wichtige Rolle.
Beispiel: Felix wuchs mit einem Vater auf, der immer wieder Versprechen brach und unzuverlässig war. In seinen Beziehungen als Erwachsener fällt es Felix extrem schwer, seiner Partnerin zu vertrauen. Er zweifelt an ihren Aussagen, kontrolliert ihr Handy und hat ständig Angst, von ihr hintergangen zu werden. Er vermeidet es, sich emotional zu öffnen, aus Angst, verletzlich zu sein.
5. Die Wunde der Bedeutungslosigkeit/Unsichtbarkeit:
"Ich bin unwichtig/nicht relevant."
Entstehung: Diese Wunde entsteht, wenn Kinder sich in ihrer Familie nicht wichtig, nicht gesehen oder nicht gehört fühlen. Wenn Eltern emotional abwesend, narzisstisch oder sehr mit sich selbst beschäftigt sind und die Bedürfnisse und Gefühle des Kindes ignorieren oder abwerten, lernt das Kind unbewusst: "Meine Existenz, meine Gefühle, meine Bedürfnisse spielen keine Rolle, ich bin unwichtig." Auch in Familien mit vielen Geschwistern oder in überforderten Familien kann dieses Gefühl entstehen, wenn die individuellen Bedürfnisse des Kindes "untergehen". Das Kind internalisiert: "Ich bin nicht wertvoll genug, um beachtet zu werden."
Manifestation in der Bindungsangst: Menschen mit dieser Wunde haben oft das Gefühl, in Beziehungen "unsichtbar" zu sein und dass ihre Bedürfnisse nicht wichtig sind. Sie haben Angst, übersehen oder übergangen zu werden. In Beziehungen kann sich dies durch übermäßige Anpassung, Unterdrückung eigener Bedürfnisse, Schwierigkeiten, eigene Wünsche zu äußern, und ein ständiges Gefühl, "zu kurz zu kommen", äußern. Sie suchen oft verzweifelt nach Aufmerksamkeit und Bestätigung, um sich überhaupt "gesehen" zu fühlen. Psychologisch relevant ist hier das Konzept der emotionalen Vernachlässigung und die daraus resultierende Beeinträchtigung der Selbstwahrnehmung und Selbstbehauptung.
Beispiel: Lisa wuchs in einer großen Familie auf und fühlte sich oft "untergegangen". Ihre Eltern waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und hatten wenig Zeit für ihre individuellen Bedürfnisse. In ihren Beziehungen als Erwachsene hat Lisa ständig Angst, nicht wichtig genug für ihren Partner zu sein. Sie strengt sich übermäßig an, um seine Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen, unterdrückt aber ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, aus Angst, ihn zu "belästigen" oder "zu verlieren".
Heilung ist möglich – Der Weg aus den Kernwunden
Es ist wichtig zu betonen: Diese Kernwunden sind nicht in Stein gemeißelt! Sie sind heilbar! Das Verständnis dieser tiefen Wunden ist der erste Schritt zur Heilung. Durch Therapie, insbesondere bindungsorientierte Therapie, Selbstreflexion, achtsame Selbstbeobachtung und bewusste Arbeit an den eigenen Beziehungsmustern können Menschen mit Bindungsangst lernen, ihre Wunden zu heilen, ein stabileres Selbstwertgefühl zu entwickeln und gesündere, erfüllendere Beziehungen aufzubauen.
Einige hilfreiche Schritte auf dem Weg der Heilung können sein:
Bewusstwerdung: Sich der eigenen Kernwunden bewusst werden und verstehen, wie sie sich im eigenen Leben und in Beziehungen manifestieren.
Selbstmitgefühl: Sich selbst mitfühlend begegnen und die eigenen Verletzungen anerkennen, ohne sich dafür zu verurteilen.
Verarbeitung: Die frühen Verletzungen und traumatischen Erfahrungen in der Therapie aufarbeiten und integrieren.
Neubewertung: Dysfunktionale Glaubenssätze über sich selbst und Beziehungen hinterfragen und durch realistischere und wohlwollendere Überzeugungen ersetzen.
Neue Beziehungserfahrungen: Bewusst gesunde Beziehungen suchen und pflegen, in denen Sicherheit, Vertrauen und gegenseitige Wertschätzung im Vordergrund stehen.
Selbstfürsorge: Lernen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und liebevoll für sich selbst zu sorgen, um das innere Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu stärken.
Fazit: Die Reise zur Heilung beginnt mit dem Verständnis
Bindungsangst ist kein Schicksal, sondern eine Folge tief liegender emotionaler Verletzungen. Das Verständnis der Kernwunden, die dieser Angst zugrunde liegen, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Heilung und zu erfüllteren, liebevolleren Beziehungen. Wenn Sie sich in diesem Blogbeitrag wiedererkennen, ermutige ich Sie, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich auf den Weg der Heilung zu begeben. Es ist möglich, die Last der Vergangenheit abzulegen und ein Leben in Sicherheit, Vertrauen und tiefer Verbundenheit zu führen.